Einen Baum zur Hochzeit oder anlässlich der Geburt eines Kindes zu pflanzen, hat in vielen Kulturen weltweit Tradition. Doch genau wie in der Ehe und beim geliebten Nachwuchs ist das freudige Ereignis nur der Anfang eines langen Weges. Um die Entwicklung eines Obstbaumes optimal zu fördern und ihn über viele Jahre gesund und ertragreich zu erhalten, ist ein regelmäßiger fachgerechter Schnitt unbedingt notwendig.
Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Obstbestände in Deutschland hauptsächlich im Erwerbsobstbau bewirtschaftet und erhielten daher regelmäßig einen Pflegeschnitt. In den darauf folgenden Jahrzehnten nahm die Zahl verwilderter und ungepflegter Obstwiesen immer weiter zu. Einige wertvolle alte Obstsorten sind dadurch unwiederbringlich verloren gegangen, andere stehen kurz davor.
Inzwischen ist das Interesse an der Nutzung regionaler Streuobstbestände wieder deutlich gestiegen. Die Nachfrage nach unbehandeltem und in der Regel schmackhafterem Obst steigt stetig. Der Bedarf einer Nutzung für den Eigenbedarf ebenso. Oft sind allerdings die Fachkenntnisse zum richtigen Gehölzschnitt bei Streuobstwiesenbesitzern und/oder -bewirtschaftern nicht mehr, oder nur teilweise vorhanden. Zum Glück lassen sich diese Wissenslücken dank engagierter Fachleute wie Gartenbauingenieur Holger Weiner und Katrin Müller vom Landschaftspflegeverband Sächsische Schweiz – Osterzgebirge e.V. (LPV) schließen. In ihren vom LPV initiierten Seminaren vermitteln sie umfassende theoretische und praktische Fachkenntnisse rund um den richtigen Schnitt von Obstbäumen. Das Landgut Kemper & Schlomski (LGKS) ist als Kooperationspartner beim Seminar in Großröhrsdorf mit dabei.
Der theoretische Teil findet in Grahls Weinstube im Herzen des Dorfes statt. Bei Kaffee und Tee erläutert Seminarleiter Holger Weiner zu allererst Grundlagenwissen zum Thema Obstbaum: Gesetzmäßigkeiten des Gehölzwachstums, Aufbau des Baumes allgemein und der Krone im Detail, Beeinflussung des Wuchsverhaltens durch Baumschnitt und die Gesunderhaltung des Gehölzes. Anschließend dreht sich alles um den Baumschnitt selbst: Wann sollte man im Idealfall schneiden? Welche Äste sollten entnommen werden? Wie wirkt sich ein Baumschnitt auf den Ertrag aus? Holger Weiner erklärt die Hintergründe zu einzelnen Themen nicht nur an klaren schematischen Zeichnungen, sondern zeigt auch zahlreiche anschauliche Fotobeispiele aus seiner Berufspraxis. Er beantwortet viele Fragen der interessierten Seminarteilnehmer, gibt Tipps und empfiehlt Fachliteratur zum Thema.
Der Vormittag vergeht wie im Flug. Einem handfesten Mittagessen folgt der praktische Teil auf einer der Streuobstwiesen am Landgut Kemper & Schlomski. Seit vielen Jahren revitalisiert das LGKS die wertvollen, zum Hof gehörenden alten Streuobstbestände durch Pflege und Neupflanzungen. Ca. 200 Jungbäume wurden bisher gepflanzt. Nach einer herzlichen Begrüßung durch LGKS-Betriebsleiterin Bärbel Kemper, stellt Herr Weiner zunächst die verschiedenen auf dem Markt erhältlichen Schnittgeräte vor und erläutert ihre jeweiligen Vor- und Nachteile. Danach geht es zu den Bäumen. Die meisten Obstbäume auf dieser Wiese sind knapp zehn Jahre alt und können einen Erziehungsschnitt gut vertragen. Bevor es ernst wird, werden jedoch alle Werkzeuge zur Seite gelegt, um die Bäume in aller Ruhe und von allen Seiten eingehend zu begutachten. Denn was einmal abgeschnitten ist, kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Erst, als sich die Gruppe ein genaues Bild vom Zustand der Bäume gemacht hat, geht es ans Schneiden. Ein Raunen macht die Runde, als Herr Weiner gleich mit dem ersten Schnitt einen verhältnismäßig großen Ast von einem jungen Pflaumenbaum trennt.
Aber nach und nach wird im lichter werdenden Astgewirr eine neue Form erkennbar, die ahnen lässt, in welche Richtung sich der junge Baum im Lauf der nächsten Jahre entwickeln kann. Die Theorie vom Vormittag nimmt in der Praxis Gestalt an. Anhand von diesem und den folgenden Bäumen entwickeln die Seminarteilnehmer eine Vorstellung, was es mit einem guten Baumschnitt auf sich hat und wieviel man damit für die eigenen Bäume erreichen kann.
Nach einer weiteren Fragerunde löst sich die Gruppe auf. Während manche schon den Heimweg antreten, folgen andere Teilnehmer LGKS-Forstwissenschaftler Jakob Richter auf die große Kirschstreuobstwiese. Dort wollen sie sich das Anlegen von Benjeshecken am praktischen Beispiel erläutern lassen. Damit wird eine Möglichkeit für die Verwendung, der beim Baumschnitt anfallenden Äste, aufgezeigt. Benjeshecken oder Totholzhecken sind sinnvolle Bereicherungen in der Landschaftsstruktur oder im Garten. Der Schutz einer Hecke bildet ein günstiges Kleinklima und kann darüber hinaus Staub, Schmutz und Abgase filtern sowie Lärm dämpfen. Außerdem bieten die bandartigen Schnittgutablagerungen und die im besten Fall darin gepflanzten Sträucher, zahlreichen Tierarten Schutz und Lebensraum. Mit dieser kostenlosen und einfachen Verwendung des Schnittguts kann ein wichtiger Beitrag zum Naturschutz geleistet werden.
Für die Teilnehmer bildet das Tagesseminar zum Gehölzschnitt eine gute Grundlage für die fachgerechte Obstbaumpflege auf den eigenen Wiesen. Was den meisten nun noch fehlt, ist Erfahrung. Sie spielt eine ebenso große Rolle für einen optimalen Baumschnitt über mehrere Jahrzehnte hinweg wie das Fachwissen. Ein langer Weg also, auf dem alle an diesem Tag einen gemeinsamen ersten Schritt getan haben.